Marco Kurek :: Fotografie

Karneval in London

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Es ist Sonntag, 10.00 Uhr morgens. Wir zwängen uns mit Hunderten von Gleichgesinnten aus der Tube. Auf dem Bahnsteig und in den unterirdischen Gängen bedrängen uns fliegende Händler mit Trillerpfeifen und Karneval-Programmen. Karibische Klänge tönen bis in den U-Bahnschacht. Oben auf der Straße lauern weitere Händler, behängt mit den bunten "whistles". Die Verkäufer lassen uns erst in Ruhe, nachdem auch wir uns die Trillerpfeife, das wichtigste Utensil für den heutigen Tag, um den Hals hängen und es sofort aus Leibeskräften auf seine Funktionalität hin testen.

Wir sind auf dem Weg zum größten Karneval Europas. Denn um einen karibischen Karneval zu erleben, muß man nicht nach Trinidad oder Rio de Janeiro reisen. Einmal im Jahr wird auch in London ein ausgelassenes Straßenfest, der Notting Hill Carnival, gefeiert. Zu Calypso und Socaklängen treffen sich am Wochenende vor dem letzten Augustmontag bis zu zwei Millionen Menschen, um die nach Rio de Janeiro zweitgrößte Karnevalsshow der Welt zu sehen.
Organisiert wird diese riesige Party überwiegend von Immigranten aus Trinidad, Jamaika und den karibischen Inseln, die vorwiegend im Londoner Stadtteil Notting Hill beheimatet sind.

Der Strom der Menschenmassen reißt nicht ab.Je näher wir an den Ort des geschehens kommen, desto mehr Vergnügungssüchtige aus ganz England und dem Europäischen Festland pilgern zur Karnevalsroute. Kulinarische Köstlichkeiten wie jamaikanische Patties, indische Samosas, gegrillte Maiskolben oder marinierte Hühnerbeine lassen das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Während des Karnevals verwandeln sich Vorgärten in Garküchen, und aus geöffneten Wohnzimmerfenstern verkaufen Familien Getränke und Speisen. Am Straßenrand werden Kokosnüsse und Zuckerrohr angeboten. In der Luft hängt der Geruch von gegrilltem Fleisch und frittiertem Gemüse.

An jeder Straßenecke türmen sich die Soundsysteme auf. Die bis zu vier Meter hohen Boxen verwandeln die Straße in eine riesige Disco. Zu Soca, Soul, Reggae, Jazz, Funk, Rap, Latin, Ragga, HipHop und Steelband-Music läßt sich´s vortrefflich tanzen. Jedes nur irgendwie begehbare Hausdach und jeder Balkon ist zur Tribüne umfunktioniert.

Um halb eins tauchen die ersten Wagen und Bands auf, die von den Zuschauern mit einem wilde Trillerkonzert begrüßt werden. Der Umzug beginnt. Aus allen Seitenstraßen rollen mit riesigen Lautsprechern beladene floats, die mit Maskeradebands (mas) begleitet werden.

Monatelang dauern die Vorbereitungen für den fast sieben Kilometer langen Umzug. Prächtige Kostüme werden entworfen, in filigraner Handarbeit genäht und bestickt. Rhytmische Calypso-Musik muß komponiert und einstudiert werden.

Die Idee für den Notting Hill Carnival kam Mitte der 60er Jahre von den Schwarzen. Einwanderer von den Karibischen Inseln, aber vor allem aus Trinidad, träumten von einem großen Festival, das die Menschen näher zusammenbringt.
Denn Ende der 50er Jahre hatte das meist von schwarzen bewohnte Notting Hill mit radikalem Rassismus und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Auch die Wohnverhältnisse waren miserabel. Kein Wunder, daß die Menschen unter hohem sozialen und wirtschaftlichen Druck standen.

Um etwas Dampf abzulassen, wurden in großen Sälen Partys organisiert, zu denen Schwarze ohne Eintritt zusammenkommen konnten.
Aus diesen Aktivitäten entstand schließlich die Idee, ein Straßenfestival mit Kostümen und "steel drum music" zu organisieren, um Schwarze und Weiße zu ermutigen, wieder aufeinander zuzugehen.

Längst nehmen nicht mehr nur die Einwanderer aus der Karibik am Karneval teil. Auch die Immigrannten aus Aftghanistan, Kurdistan, Bangldesch, den Philippinen, Afrika sowie Zentral- und Südamerika lassen sich das Feiern nicht nehmen.
Erst Zaghaft üben sich die Londoner in karibischer Ausgelassenheit: So mancher kühle Engländer hat damit noch immer seine Probleme.

Am judging point marschieren die einzelnen Bands über eine Rampe - die Stimmung beginnt zu kochen. Hier wird auch am wildesten getanzt, um die Preisrichter besonders zu beeindrucken.

Am heutigen Sonntag ist Childrens Day. Die Kinder ziehen in über 60 Kostümbands in einem Kilometer langen Umzug durch die Straßen von Notting Hill tanzen und trillern, was das Zeug hält. Voller Stolz präsentieren sich die Kids in ihren farbenprächtigen Kostümen als Fabelwesen, Prinzen und Prinzessinnen oder Space-Ritter.

Am Montag, es ist Bank Holiday, findet der eigentliche Höhepunkt mit über hundert Kostüm und Steelbands statt. Jetzt wirken auch die Erwachsenen in der Parade mit: Von der 90jährigen Großmutter bis zu Baby im Kinderwagen. Die Stimmung ist am Siedepunkt.

Bis spät in die Nacht ertönt die Geräuschkulisse über die Grenzen von Notting Hill. Ausgelassen strömen die Menschenmassen Richtung U-Bahn, von wo sie sich in allen Himmelsrichtungen verteilen.

Auch wir steigen hinab in die Londoner Tube, mit dem festen Vorsatz im nächsten Jahr wieder dabeizusein, wenn die Londoner wieder so richtig die Sau rauslassen.